Untertitel: Wir werden immer dümmer.
DIE ZEIT 28.03.2019 Nr. 14/2019 Von Nataly Bleuel, Nike Heinen und Tanja Stelzer
Jahrzehntelang stieg der IQ in den meisten Industrienationen an, auch in Deutschland. Seit einigen Jahren aber sinkt er. Warum?
Dass tief drinnen in Emmas* Kopf etwas anders sein muss als bei anderen Kindern, fiel den Lehrern gleich nach der Einschulung auf. Sie hatte Schwierigkeiten, den Stift richtig zu halten. Den Lernstoff der ersten Klasse konnte sie sich auch im zweiten Anlauf kaum erschließen. Emma, jetzt in der Dritten, liest nur mit Mühe, Buchstabe für Buchstabe. In Mathe hängt sie bei den Plus- und Minusaufgaben fest, während die anderen schon lange malrechnen.
Emma ist ein hübsches Mädchen, die langen braunen Haare trägt sie als Zopf. Emma ist auch beliebt. Ihr freundliches Lächeln gefällt so sehr, dass sie für Fotoshootings gebucht wird. Emma würde gern auch mit Leistungen gefallen. Sie macht mit, sie strengt sich an, aber es klappt einfach nicht. Ihre Lehrer sind in Sorge, und die Eltern erst recht.
Was ist los mit Emmas Kopf?
Heute ist eine Sonderpädagogin in die Schule gekommen, irgendwo in Hamburg, kein besonders gutes, kein besonders schlechtes Viertel. Auf dem Tisch hat die Frau ein großes Blatt ausgebreitet, auf dem reihenweise gezeichnete Enten zu sehen sind. Die Enten unterscheiden sich in Details: Manche gucken nach links, andere nach rechts. Gelbe Schnäbel, rote Schnäbel. Schwarze Watschelfüße, gelbe Watschelfüße. Emma soll sich drei Enten einprägen und dann in den langen Reihen genau solche Enten heraussuchen. Neun Reihen von Enten, in jeder Reihe darf Emma 15 Sekunden suchen.
Los geht’s, Emma!
Emma malt mit dem Kuli Kreise um Enten, kaut auf dem Finger.
Stopp! Nächste Reihe!
Emma kreist Enten ein, richtige, falsche.
Stopp! Nächste Reihe!
Emma zwirbelt an der Unterlippe.
Stopp, weiter! Gleich hast du’s geschafft!
Am Ende hat Emma eine Menge Enten übersehen und eine Menge falsche eingekreist. Als sie Zahlen- und Buchstabenreihen nachsprechen soll, kommt sie durcheinander. Formen mit Bauklötzchen nachbauen – schwierig.
Wie schlau ist Emma? Welches Leben, welche Möglichkeiten liegen vor ihr? Wird sie einen Schulabschluss schaffen? Wird ihr Potenzial als Fundament ausreichen, um eine Existenz darauf zu bauen?
Emma ist nicht krank, nur kommt sie über ein bestimmtes Level nicht hinaus. Kinder wie sie gibt es nicht sehr viele, aber es werden mehr, nicht nur in Deutschland, sondern fast überall in der westlichen Welt. Das jedenfalls legen wissenschaftliche Untersuchungen nahe. Denn wir Menschen, die wir uns über Jahrhunderte immer weiter perfektioniert haben, die wir in den letzten Jahrzehnten schlauer und schlauer wurden, wie die meisten Intelligenzforscher sagen, wir sind offenbar dabei, Stück für Stück, IQ-Punkt für IQ-Punkt etwas von unserem Verstand einzubüßen.
Kann das wirklich sein?
Die neuseeländische Region Otago ist eine Halbinsel. Wildes Wasser, Felsenklippen, Albatrosse. Hier wohnt – und arbeitet trotz seiner 85 Jahre noch immer – James Flynn, emeritierter Professor für Philosophie an der Universität von Dunedin, einer viktorianisch geschmückten 130.000-Einwohner-Stadt. Flynn ist ein berühmter Mann. Der Grund für seinen Ruhm: ein Aufsatz, den er 1987 im Psychological Bulletin veröffentlichte, nach einer 30-jährigen akademischen Laufbahn, die er von einer größeren Öffentlichkeit unbeachtet absolviert hatte. Eines Tages im Jahr 1980 hatte er in einem Handbuch für einen Intelligenztest geblättert. Der Test und das Handbuch waren von 1972, und auf den ersten Seiten wurde erläutert, dass eine Gruppe von Kindern nicht nur diesen Test absolviert hatte, sondern zum Vergleich auch die Vorgängervariante von 1947. Und noch etwas stand da: Die Kinder hatten bei dem alten Test von 1947 einen Durchschnittswert von 108 erreicht – das waren acht Punkte mehr, als die Kinder im Jahr 1947 geschafft hatten. Was war da los?, fragte sich Flynn. Konnte es sein, dass die Kinder des Jahres 1972 schlauer waren als Gleichaltrige zweieinhalb Jahrzehnte zuvor?
Flynn setzte sich an seine Schreibmaschine und schrieb an 165 Forscher in aller Welt: Er sammle die Ergebnisse von Studien, bei denen mehrere Generationen von Einwohnern vergleichbaren Alters immer dieselben Intelligenztests absolviert haben. Nach und nach kamen Briefe und Daten zurück, aus 35 Ländern. Flynn sichtete, rechnete und konnte es kaum glauben: Ob in Japan oder Kanada, in den USA, in Großbritannien oder Frankreich, in Westdeutschland oder in der DDR – überall in den untersuchten Industrienationen hatten die Menschen von Generation zu Generation einen immer höheren IQ-Wert erreicht, 5 bis 25 Punkte lagen zwischen einer Generation und der nächsten. Die anderen Forscher waren ebenso begeistert. Sie nannten die wundersame Intelligenzsteigerung den "Flynn-Effekt".
Die Entdeckung des Flynn-Effekts versetzte die westliche Welt in eine regelrechte IQ-Euphorie. Immer mehr Kinder durchliefen IQ-Tests, denn vor allem die Hochbegabten wollte man nun auf gar keinen Fall übersehen. Bücher über Hochbegabte wurden Bestseller, besonders Schlaue, IQ 130 plus, wurden Mitglied im Verein Mensa, wo sie anfingen, sich zu Schachturnieren und Debattierrunden zu treffen. Bald wusste man: Die Schauspielerin Jodie Foster hat einen IQ von 132. Madonna, die Musikerin, hat 140, Garri Kasparow, der Schachspieler, 190. Die internationalen IQ-Vergleiche wurden immer ausgefeilter.
Die Vermessung des Geistes
Was misst der IQ? Welche Tests gibt es? Kritik am IQ
Der Intelligenzquotient (IQ) soll das intellektuelle Leistungsvermögen eines Menschen ausdrücken. Ein IQ von 100 ist der Durchschnitt. Wer einen Wert von über 115 hat, gilt als überdurchschnittlich begabt, wer unter 85 liegt, als unterdurchschnittlich begabt. Ab 130 Punkten spricht man von Hochbegabung, unterhalb von 70 von geistiger Behinderung.
Die Anbieter der IQ-Tests begannen, ihre Tests regelmäßig zu normieren. Der Durchschnitts-IQ sollte ja weiterhin bei 100 liegen – so ist es immer bei IQ-Tests: Hundert ist der Standard, die nicht so Schlauen haben weniger, die besonders Schlauen mehr. Unter 85 gilt man als unterdurchschnittlich, über 115 als überdurchschnittlich intelligent. In Deutschland wurde empfohlen, die Tests spätestens alle acht Jahre zu erneuern. Mit jeder Normierung wurden die IQ-Tests ein wenig schwieriger.
Der Westen sonnte sich in der Vorstellung, immer neue geistige Höhen zu erklimmen und so die Welt mit immer scharfsinnigeren Ideen zu beglücken. Man lebte in der Gewissheit, dass die Schulen immer besser wurden und das Leben der Menschen immer sorgloser. Die gute Ernährung, die zusätzliche Zeit, die Eltern dank der regulierten Arbeitszeiten für ihre Kinder hatten, die anspruchsvolleren und geistig anregenderen Jobs, all das wurde als Erklärung für den Flynn-Effekt ins Feld geführt.
Bis 2004. In diesem Jahr riss die IQ-Euphorie plötzlich ab. Die erste schlechte Nachricht kam aus Norwegen. Psychologen der Universität Oslo und der norwegischen Streitkräfte hatten Daten miteinander verglichen, die zwischen 1954 und 2002 bei der Musterung von jungen Männern erhoben worden waren – und den Forschern war ein Knick in der IQ-Kurve aufgefallen. Zwischen 1970 und 1993 hatte sich die Zunahme des IQ verlangsamt. Von 1994 an fielen die Scores.
Wer bekommt welche Chancen und warum?
Der Effekt betraf alle getesteten Aspekte von Intelligenz – Fragen, die ein sicheres Sprachgefühl erforderten, genauso wie Aufgaben, die logisches Denken voraussetzten. Bald stellte sich heraus, dass es sich um kein rein norwegisches Problem handelte. Es folgten ähnliche Studien aus Schweden, Dänemark, Großbritannien, Österreich, der Schweiz, Deutschland, Australien, Finnland. Es war immer das Gleiche: Der IQ sank, mal um 0,25 Punkte pro Jahr, mal um 0,5. In einigen Ländern war der IQ insgesamt betroffen, in anderen waren es nur Teilbereiche wie das räumliche Vorstellungsvermögen.
Auch das Sinken des IQ hat heute einen Namen. Man nennt es den umgekehrten Flynn-Effekt.
James Flynn ist jetzt doppelt berühmt.
Flynn selbst wollte erst nicht glauben, dass der nach ihm benannte Effekt sich umgekehrt hatte. Hatten die Kollegen sich verrechnet? War es Zufall? Als aber immer mehr Hinweise eintrafen, begann er an seinem eigenen Zweifel zu zweifeln. Also machte er – 2017 war das, inzwischen war er 83 Jahre alt – noch einmal das Gleiche wie 30 Jahre zuvor: Er sammelte Daten aus verschiedenen Ländern. Diesmal musste er keine Schreibmaschinenbriefe zur Post bringen. Er lud sich die Daten aus dem Internet herunter. Nun war er sicher: Ja, der IQ sinkt. Jedenfalls in vielen westlichen Ländern.
Intelligenzquotient: James Flynn entdeckte, dass der IQ stieg – und wunderte sich, als seine Kollegen herausfanden, dass er nun wieder fällt.
In einem langen Telefonat schickt Flynn seine Worte durch die knisternde Leitung aus Neuseeland nach Europa. Er erzählt, wie er, 1934 als Sohn irischer Einwanderer in den USA geboren, dort Moralphilosoph wurde. In den Südstaaten setzte er sich in den Sechzigerjahren für Bürgerrechte ein. Das kam nicht gut an. Er verlor mehrere Lehraufträge und siedelte um nach Neuseeland. Den Flynn-Effekt erklärte er sich mit dem gesellschaftlichen Ideal der Bürgerbewegung: Demokratische Staaten geben den Menschen den Raum, sich zu entfalten. Sie geben ihnen Freiheit, auch für geistige Höhenflüge.
Und jetzt? Die Freiheit ist nicht verschwunden. Was also ist in den Neunzigerjahren geschehen, was hat sich verändert?
"Die größte Veränderung, die mir über die Jahre aufgefallen ist", sagt James Flynn, "ist das Verschwinden anspruchsvoller Bücher." Die Kinder verlieren sich in den Computerspielen. Und so gut sie im Daddeln werden, so schlecht werden sie darin, logisch zu denken. Seinen Studenten, bemerkte Flynn, fiel es immer schwerer, Schopenhauer zu lesen.
Die These vom Aufstieg und Fall des Intelligenzquotienten wird nicht von allen Wissenschaftlern geteilt. Es gibt Mathematiker, die widersprechen – es handele sich bloß um eine Scheinwahrheit, ein rechnerisches Konstrukt, das durch den Versuch entsteht, die Leistungen der Probanden in eine idealtypische, aber die Wirklichkeit verzerrende Glockenkurve zu übertragen. Es gibt Statistiker, die einwenden, aus dem IQ könne man gar nicht ablesen, wie intelligent ein Kind ist, sondern nur, wie gut es einen bestimmten Aufgabentyp beherrscht, und auch, wie gut es mitmacht. Das weisen viele Intelligenzforscher wiederum vehement zurück.
Es gibt also eine lebhafte Debatte über die beiden Flynn-Effekte. Aber es gibt auch, und zwar überall in den Industrienationen: immer mehr Kinder, bei denen das Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom ADHS diagnostiziert wird. Immer mehr Fälle von Autismus-Spektrum-Störungen. Von Konzentrationsstörungen und anderen Lernschwierigkeiten. Eine kleine Nachricht von vielen: In einer aktuellen Zählung des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung in Bayern von 2018 gab es so viele Familien wie nie zuvor, die nach einer ärztlichen Diagnose Unterstützung wegen einer geistigen Beeinträchtigung ihres Kindes beantragten.
All diese Entwicklungsstörungen haben eines gemeinsam: Sie hängen mit Vorgängen in genau den Bereichen des Gehirns zusammen, die unsere Intelligenz formen. Nur wer sich gut konzentrieren kann, kann gut lernen.
Es sieht also wirklich so aus, als wäre in den Köpfen der Menschen irgendetwas nicht in Ordnung. Warum das so ist, kann die Wissenschaft noch nicht genau sagen. Es gibt aber einige Hypothesen zum negativen Flynn-Effekt. Manche davon sind kleine Bomben, die in der Lage sind, eine Gesellschaft zu sprengen.
Als der umgekehrte Flynn-Effekt entdeckt wurde, hieß es schnell, die Kinder von Einwanderern mit ihren bildungsfernen Familien und ihren Sprachschwierigkeiten zögen die Ergebnisse nach unten. Es hieß, die Armen und Ungebildeten bekämen mehr Kinder als die Reichen und Gebildeten.
Die Blöden vermehren sich und verschlechtern den Genpool? So formulierten die Wissenschaftler das zwar nicht, aber sie sprachen vom "dysgenischen Effekt". Zwischen den Zeilen mancher Studien schien ein Motto durch: Wir, die Schlauen, wollen uns von den Dummen nicht den Schnitt und den Fortschritt verderben lassen, also sollten wir sie lieber draußen halten. Thesen, die auch der ehemalige Politiker Thilo Sarrazin in seinem Buch Deutschland schafft sich ab verbreitet hat.
Frank Spinath, 49 Jahre alt, von Kopf bis Fuß schwarz gekleidet, ist Professor für Differentielle Psychologie in Saarbrücken, nebenbei Sänger und Texter mehrerer Bands, Musikrichtung: Future-Pop. Er hat eine Leidenschaft für Star Wars und Kirchenorgeln. Man wird ihm nicht zu nahe treten, wenn man sagt: ein Nerd.
Frank Spinath ist zur Intelligenzforschung gekommen, als er in einem Seminar im ersten Semester seinen eigenen IQ erfuhr – "irgendwas über 130" – und herauskriegen wollte, warum er schlauer als die allermeisten anderen war. Er freute sich natürlich, aber er fand es auch ungerecht. Wer bekommt welche Chancen und warum? Sind es die Gene? Ist es die Umwelt – Erziehung, Bildung, Wohlstand? Das Zusammenspiel zwischen all dem?
Fragt man Frank Spinath, ob Intelligenz erblich ist, sagt er: "Zu einem bedeutsamen Teil: ja."
Bringen Akademikerinnen von Natur aus schlauere Kinder zur Welt?
"Ja, statistisch schon."
Haben Menschen mit wenig Geld im statistischen Mittel einen geringeren IQ?
"Ja, auch das."
Und dann entschuldigt er sich, denn wohl scheint er sich bei diesen Antworten nicht zu fühlen. Er befürchtet, herausgelöst aus dem wissenschaftlichen Drumherum könnten seine Aussagen missverstanden werden. Er weiß: "Intelligenzforschung ist eine schwer verdauliche Bowle mit explosiven Zutaten."
Wir sind unseren Genen nicht ausgeliefert
Intelligenzquotient: Die Gene erklären bis zu 70 Prozent der Intelligenzunterschiede.
Die Gene erklären bis zu 70 Prozent der Intelligenzunterschiede. © Jewgeni Roppel
Spinath ist führend auf dem Gebiet der Zwillingsforschung. Seit vielen Jahren untersucht er Zwillingspaare – denn wenn sich zweieiige Zwillinge ein Zuhause teilen, sind es zumindest theoretisch nur die Gene, die sie unterscheiden. Und manchmal eben auch der IQ.
Spinath geht wie die meisten Forscher davon aus, dass die Erbanlagen bis zu 70 Prozent der Intelligenzunterschiede bei Erwachsenen erklären können. Das klingt ziemlich eindeutig, doch in Wahrheit ist es viel komplizierter.
Bei einer seiner Studien hat Spinath die Lebensumstände und den IQ von 3074 Kindern und jungen Erwachsenen untersucht. 11-Jährige, 17-Jährige, 23-Jährige. Je besser es ihren Eltern wirtschaftlich ging, desto höher war im Schnitt der IQ-Score der Kinder. Spinath erklärt sich das so: "Ein gut gestelltes Elternhaus hat schon eher günstige Gene zu vererben. Und stabilisiert sie noch weiter." Wenn es nicht so gut läuft, bekommen die Kinder der wohlhabenden Eltern eben Nachhilfe.
Auch die Gene selbst werden von der Umwelt beeinflusst. Vom Moment der Zeugung an werden bestimmte Gene aktiviert oder stillgelegt. Dieses Ein- und Ausschalten kann von allem Möglichen hervorgerufen werden: von zu vielen Schokoriegeln, von regelmäßigen Ohrfeigen oder von dramatischen Momenten, etwa bei einem Autounfall. Die Lebenserfahrung eines Menschen findet sich im Schaltmuster seiner Gene wieder. Wenn Eltern ihren Kindern viel vorlesen, können Gene aktiviert werden, die das Sprachzentrum im Gehirn vernetzen helfen. Sehen die Kinder stattdessen fern, können andere Gene eingeschaltet werden, die ungünstig für die geistige Entwicklung sind.
Es stimmt also nicht, dass wir unseren Genen ausgeliefert sind.
Nachdem die norwegischen Forscher den IQ-Rückgang bei den Rekruten beobachtet hatten, untersuchten Kollegen, ob sich vielleicht die soziale Zusammensetzung der Soldaten verändert hatte. Lag es daran, dass mehr junge Männer aus sozial schwachen Familien dabei waren? Dass es mehr junge Männer mit Migrationshintergrund gab? Ein Team von Mathematikern stieß auf eine ganz andere, unerwartete Erklärung. Aus den weit zurückreichenden Daten konnten die Wissenschaftler die Entwicklung einzelner Familien nachvollziehen. Sie fanden heraus, dass der IQ auch innerhalb alteingesessener norwegischer Familien sank. Die Söhne waren weniger schlau als die Väter.
Das aber heißt so viel wie: Der negative Flynn-Effekt kann nicht allein an den Genen liegen. Er muss auch ein Umwelteffekt sein. Er ist auch menschengemacht.
Es ist der Montag nach den Halbjahreszeugnissen, die Schüler haben frei, aber die Lehrer des Wilhelm-Busch-Gymnasiums in Stadthagen, Niedersachsen, müssen arbeiten. Es ist ihr jährlicher Fortbildungstag, und diesmal steht auf dem Programm: eine Revolution.
Vom kommenden Sommer an soll es am Wilhelm-Busch-Gymnasium Tabletklassen geben, endlich. Viele Lehrer im Kollegium, sagt der Schulleiter Holger Wirtz, freuten sich darauf. Nun sollen sie erfahren, wie sie die Computer am besten im Unterricht einsetzen. Die Lehrer sitzen in der Aula und warten tuschelnd auf den Vortrag des "weltweit renommierten Hirnforschers der TU Braunschweig" Martin Korte, den der Schulleiter angekündigt hat. "Die Schule im digitalen Wandel" heißt der Titel des Vortrags.
Martin Korte* 1964 ist ein deutscher Biologe. Seine Forschungsschwerpunkte sind zelluläre Grundlagen von Lernen und Gedächtnis, Neurotrophine und ihre Rezeptoren, Synapsen und Plastizität im Hippocampus
In wenigen Tagen soll der Digitalpakt verabschiedet werden. Fünf Milliarden Euro für den Schritt der deutschen Schulen in die moderne Welt. "Bundestag billigt Grundgesetzänderung zum Digitalpakt", "Ende der Kreidezeit", "Digitalpakt Schule: Endlich raus aus dem Schlafmodus" – so lauten die Überschriften in den Zeitungen. Wenn dieses Land sich über eine Sache einig zu sein scheint, dann ist es diese: Den Computern im Klassenzimmer gehört die Zukunft. Manche der Lehrer halten Papier und Stift gezückt.
Der Hirnforscher ist ein drahtiger Mann mit Brille, der aussieht, als käme er gerade von einer Nacht im Zelt: zerdrückte Haare, Funktionsjacke, Wanderschuhe. Tatsächlich ist er erst vor wenigen Stunden gelandet. Gestern war er noch bei einem Kongress in New York. "Was ist IQ?", fragt Korte und antwortet gleich selbst: "Die Verarbeitungsgeschwindigkeit." Auf die Lehrer prasseln Zahlen und Begriffe nieder. 400.000 Sinnesreize, die jede Sekunde aufs Gehirn einströmen. Dass es daraus auswählen muss, weil ein Mensch nur 120 Sinnesreize pro Sekunde verarbeiten kann. Ein Blick eines Schülers aufs Handy, und 60 Wörter des Lehrers sind durchgerauscht. Die ersten Lehrer geben das Mitschreiben auf. "Zu viel auf einmal stört das Denken", sagt Korte. "Handys im Unterricht behindern den ganzen Rest."
Der Schulleiter Wirtz sitzt kerzengerade, das Gesicht angestrengt unbewegt. Was redet der Hirnforscher da? Ein Tablet ist ja auch nichts anderes als ein großes Smartphone. Und das soll den Unterricht behindern?
Korte wirft mit dem Beamer Balkendiagramme an die Wand, die zeigen, dass die Erfolge beim Pisa-Test in Mathematik mit häufigem Computereinsatz im Klassenzimmer korrelieren, und zwar negativ. Werden in der Klasse mehr als einmal pro Woche Computer eingesetzt, sacken die Ergebnisse ab. Jetzt schreiben auch die letzten Lehrer nicht mehr mit. Korte hat inzwischen begonnen, vom "Google-Gehirn" zu reden. Er projiziert eine Aufnahme aus dem Labor an die Wand: Das Gehirn hat rote Wölkchen überall, oben an der Stirn, am Hinterkopf, vorn und hinten über den Ohren. Sehr viele rote Wölkchen.
Die Bilder stammen von der University of California in Los Angeles. In den Wölkchen sitzen angestrengt arbeitende Nervenzellen, die gerade nach der Antwort auf eine Frage suchen. Wenn der Proband ein Buch vor sich liegen hat, sind die Wolken auf zwei klar abgegrenzten Streifen angeordnet. Sobald der Proband im Internet nach derselben Information fahndet, plustern sich die Wolken in alle Richtungen auf wie vor einem Sommergewitter.
Die Studie ist von 2008 – ein Jahr nach Markteinführung des iPhones – und hat damit für Hirnforscher heute einen unschätzbaren historischen Wert. Damals konnten die Wissenschaftler um den Hirnforscher Gary Small noch ein heute fast ausgestorbenes Exemplar des Homo sapiens finden: den digital naiven Menschen, der noch nie online war. Auch von seinem Gehirn machten sie Bilder. Auf ihnen sind die Streifen mit den roten Wölkchen deutlich schmaler.
Erreichen Informationen das Gehirn, werden sie von den Nervenzellen weitergereicht. Je klarer die Richtung, desto klarer der Gedankengang. Streifenwolken sind aus der Sicht eines Hirnforschers eher gut, Kumuluswolken eher schlecht.
Intelligenzquotient: Martin Korte sagt, die digitale Welt habe das Gehirn verändert. Sie habe ihm die Klarheit des Denkens geraubt.
Martin Korte sagt, die digitale Welt habe das Gehirn verändert. Sie habe ihm die Klarheit des Denkens geraubt. © PBecher/Panther Media
Für Korte zeigen die zehn Jahre alten Bilder vor allem eines: Die digitale Welt verändert das gesamte Gehirn. Genauer: Sie hat es schon verändert. Sie hat ihm die Klarheit des Denkens geraubt. Zu den nun ziemlich besorgt schauenden Lehrern sagt Korte jetzt: "Wenn Sie vielleicht den Eindruck haben, dass Ihre Schüler sich heute nicht mehr gut konzentrieren können, dann hat das mit der Digitalisierung der Kinderzimmer zu tun." Das Gehirn, immer öfter abgelenkt von digitalen Reizen, habe sich daran gewöhnt, die Aufmerksamkeit nicht mehr zu kanalisieren. "So werden wir die Welt nicht mehr durchdenken", sagt Korte.
Die Tabletklassen – in seinen Augen sind sie gar keine gute Idee.
Von Tabletklassen sind sie in Moira im Hinterland Siziliens weit entfernt. Jetzt ist es Mittag, die Kirchturmglocken haben gerade ein Uhr geschlagen, die Tür der Grundschule fliegt auf, und heraus laufen lachend zwei Dutzend Schulkinder. Sie werden in einer der letzten noch verbliebenen Dorfschulen der Bergregion unterrichtet, gemeinsam von der ersten bis zur fünften Klasse. Vor der Schule stehen ein paar Mütter und der Dorfarzt und zwei Forscher von der Poliklinik in Messina, Fachrichtung: Endokrinologie, Hormonforschung. Dottore Maurilio Foti, ein bauchiger, herzlicher Mann Mitte 60, wird von allen begrüßt, genauso wie die beiden Forscher, die mal wieder zu Besuch sind.
Moira gehört zur Region Nebrodi und liegt 30 kurvige Kilometer vom Meer entfernt. Um die 60.000 Menschen leben hier, das war schon Anfang der Achtzigerjahre so, zu der Zeit, als der Doktor seine Frauenarztpraxis im Hauptort von Nebrodi eröffnete. Als er damals zu seinen ersten Hausbesuchen durch die Gegend fuhr, staunte er über die vielen Kretins. 22 zählte er. Kleinwüchsige Männer und Frauen, manche von ihnen mit einem großen Kropf, einer faustgroßen Beule vorn am Hals. Die Kretins waren geistig zurückgeblieben, oft auch gehörlos und stumm. Der alte Pazzo di Marú zum Beispiel: ein kleinwüchsiger Mann, der weder hören noch sprechen konnte. "Eine verrückte Type!", ruft Foti lachend: stolzierte in einem mit Haselnüssen verzierten Umhang als Kaiser durch sein Kaff!
Ohne die Schilddrüse ist der Mensch ein Nichts
So abwegig es erscheint, aber die Kretins aus den Bergen Siziliens helfen Wissenschaftlern heute dabei, dem Rätsel des sinkenden IQ in der westlichen Welt auf die Spur zu kommen.
Man weiß, dass Menschen zu Kretins werden, wenn es ihnen als Embryo an Schilddrüsenhormonen mangelt. Um diese Hormone zu bilden, braucht der Mensch – die Schwangere – Jod. Davon bekamen viele Frauen von Nebrodi zu wenig, denn hier oben wachsen zwar wunderbare Buchenwälder und Haselnussbüsche, doch der Boden enthält wenig Jod, und zu wenig Jod hat somit auch alles, was auf und in diesem Boden wächst. Auch die Milch der Kühe, die in Nebrodi grasen, enthält wenig Jod. Und anders als an der Küste gibt es in den Bergen keinen jodhaltigen Fisch.
Die Mütter, die zu wenig Jod hatten, brachten Kinder mit unterentwickelten Gehirnen zur Welt. Und die Schilddrüsen dieser Kinder wuchsen und wuchsen, um so viel Jod wie möglich einzufangen. Deshalb die Beulen am Hals.
Die Schilddrüse ist ein Organ, dem die meisten Leute wenig Aufmerksamkeit schenken. Das ist seltsam, denn ohne Schilddrüse ist der Mensch ein Nichts. Schilddrüsenhormone setzen alle Entwicklungsschritte des Menschen in Gang. Sie geben dem Gehirn den Befehl zu wachsen. Ohne Schilddrüsenhormone würden keine Knochen gebildet und keine Muskeln, keine Niere, keine Leber, kein Darm. Ohne diese Hormone lernt der Mensch nicht zu sehen, nicht zu hören, nicht zu laufen. Ein erwachsener Mensch, der zu wenig von diesen Hormonen hat, kann depressiv und vergesslich werden. Hat er zu viel, wird er nervös und reizbar.
Doktor Foti meldete die 22 Kretins dem Hormonforscher Francesco Vermiglio in Messina.
35 Jahre lang fuhr Vermiglio immer wieder in das Bergdorf Moira und in die anderen Weiler von Nebrodi, unterstützt von einer Kollegin. Sie baten die Schwangeren um Urinproben, machten bei ihren später geborenen Kindern IQ-Tests. Vermiglios Erkenntnisse alarmierten die Regierung. 2005 startete sie in Nebrodi und im ganzen Land eine Kampagne, mit der die Menschen darüber aufgeklärt wurden, wie wichtig es ist, Jod zu sich zu nehmen, vor allem jodiertes Salz.
Die Kampagne hat geholfen. Kretins gibt es heute nicht mehr in Nebrodi. Damit könnte die Geschichte des Arztes Foti und des Forschers Vermiglio zu Ende sein. Wenn Vermiglio nicht 2016 immer noch intellektuelle Defizite bei den Kindern von Nebrodi festgestellt hätte – nicht mehr so ausgeprägt wie früher, aber immer noch vorhanden. Die Jodversorgung ist noch immer nicht perfekt.
Man sieht es den Kindern nicht gleich an, wie man es auch Emma aus Hamburg nicht ansieht. Aber man merkt es unter Umständen, wenn sie anfangen zu sprechen. "Verbale Beschränkung" sagen die Forscher.
Jodmangel, das klingt tatsächlich wie ein Phänomen aus einem entlegenen Bergdorf in einer unterentwickelten Gegend, wie eine Erzählung aus vergangenen Jahrhunderten. In Wahrheit ist es aber ein Phänomen, das in vielen westlichen Industrieländern wieder zunimmt. Etwa die Hälfte der Kinder in der EU nehmen zu wenig Jod zu sich. Das hat damit zu tun, dass es in vielen EU-Ländern nicht Pflicht ist, dem Salz Jod zuzusetzen. Die Deutsche Gesellschaft für Ernährung beklagt, dass die Nahrungsmittelindustrie in den letzten Jahren anders als zuvor häufiger jodfreies Salz verwendet, offenbar vor allem aus Kostengründen. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat eine Liste von Jodmangelländern aufgestellt. In der Rubrik "leichter Mangel" finden sich elf Industrieländer, darunter Frankreich und Dänemark. Gerade wird die Liste aktualisiert. Wenn sie das nächste Mal herauskommt, werden wahrscheinlich auch Schweden, Norwegen und Großbritannien daraufstehen.
"Leichter Mangel" hört sich nicht schlimm an. Aber die Studien von Francesco Vermiglio aus Sizilien belegen, wie sensibel das Hormonsystem auf Veränderungen reagiert und welche Folgen das für das Denken hat. Schon ein leichter Jodmangel kann die Reifung des Gehirns beeinträchtigen.
Andere Forscher haben noch viel beängstigendere Erkenntnisse. Es geht um ein Problem, das auch jodiertes Salz nicht lösen kann.
Das Büro der Biologin Barbara Demeneix in Paris ist ein Kabinett aus dem 19. Jahrhundert. Knarzendes Parkett, alte Museumsvitrinen voller Bücher, ein prunkvoll geschnitzter Tisch, auf dem sich Unterlagen stapeln. Man würde sich nicht wundern, wenn gleich Henri Becquerel durch die Tür treten würde, der hier arbeitete, oder Marie und Pierre Curie, die in der Nachbarschaft forschten. Die drei Entdecker der Radioaktivität. Durch die Fenster schaut man auf das Muséum national d’Histoire naturelle, wo sie Dinosaurierskelette ausstellen, Schmetterlinge, Algen, Pilze, das Inventar des Planeten. Im Museum geht es darum, wie der Mensch und die Erde wurden, was sie sind. Das Kabinett der Professorin Demeneix gehört auch zum Museum. Doch hier geht es nicht um die Frage, woher wir kommen, sondern um die, wohin wir gehen. In der Kulisse von gestern: die Fragen von übermorgen.
Auf dem Tisch, zwischen einem Geigenkoffer, Büchern und einem Notebook, liegt ein Manuskriptstapel. Etwas mehr als hundert Seiten. Das ist der Report, den Demeneix in ein paar Tagen beim Europäischen Parlament abgeben will. Es fehlen bloß die letzten Korrekturen. Im April wird sie nach Brüssel fahren und den Report präsentieren. Sie wird den Abgeordneten, wie schon oft, ins Gewissen reden.
Intelligenzquotient: Barbara Demeneix fand in Tierversuchen heraus, dass manche Chemikalien die Gehirnreifung behindern können.
Barbara Demeneix fand in Tierversuchen heraus, dass manche Chemikalien die Gehirnreifung behindern können. © Ian Hanning/REA/laif
Barbara Demeneix hat herausgefunden, dass viele Chemikalien, die in Pestiziden, Flammschutzmitteln, Verpackungen und Kosmetika enthalten sind, im Körper des Menschen genau jene Rezeptoren behindern, an die die Schilddrüsenhormone andocken. Die Chemikalien gehören zu den sogenannten endokrinen Disruptoren, Stoffen, die den Hormonhaushalt stören. Wir nehmen endokrine Disruptoren mit der Luft auf, die wir atmen, mit der Nahrung, die wir essen, mit dem Wasser, das wir trinken, mit der Creme, mit der wir unsere Haut pflegen. Ein Körper, dem ständig endokrine Disruptoren zugeführt werden, die auf das Schilddrüsenhormonsystem einwirken, verhält sich wie ein Körper, der unterversorgt ist mit Jod, so wie bei den Schwangeren in den Bergen von Nebrodi: Es werden Kinder geboren, deren Intelligenzquotient unter den Möglichkeiten ihrer Gene liegt.
Barbara Demeneix glaubt, dass sie die Antwort auf die Frage gefunden hat, warum der IQ in der westlichen Welt sinkt. Jedenfalls einen wichtigen Teil der Antwort, wofür sie von manchen Kollegen sowie von der Chemieindustrie massiv kritisiert wird. Ihre Bücher, auf Französisch und Englisch erschienen, heißen "Wir verlieren unseren Verstand" und "Giftiger Cocktail".
"Kommen Sie", sagt sie, "ich zeige Ihnen die Kaulquappen, dann werden Sie verstehen."
Barbara Demeneix führt ins Souterrain, in ein Labyrinth aus unzähligen Räumen voller Aquarien. Gluggern und Plätschern und Brummen von Tiefkühlgeräten. Ein Geruch wie im Fischgeschäft. Hinter Glas stehen Afrikanische Krallenfrösche starr im Wasser, wie ein Standbild, eine Momentaufnahme der Evolution. Andere schwimmen wild durch die Becken, strecken dem Besucher glotzend ihre Beinchen entgegen.
Der Mensch ist noch sehr viel komplexer
Intelligenzquotient: Mit jedem verlorenen IQ-Punkt verringert sich das Verdienstpotenzial eines Menschen um zwei Prozent.
Mit jedem verlorenen IQ-Punkt verringert sich das Verdienstpotenzial eines Menschen um zwei Prozent. © Jewgeni Roppel
Warum sollten Kaulquappen etwas über Menschen verraten, die den Verstand verlieren? "Sie sind ein Modell", sagt Barbara Demeneix, "ein ganz wunderbares Modell." Wie alle Wirbeltiere besitzen Kaulquappen eine Schilddrüse, die mithilfe von Jod die gleichen Hormone produziert wie bei allen Wirbeltieren. Bei Vögeln, Fischen, Menschen.
Eine Kaulquappe, die zu wenig Schilddrüsenhormone hat, schwimmt langsamer als normal, und sie bleibt für immer eine Kaulquappe. Sie wird nie zum Frosch.
So ergeht es den Kaulquappen, die in Wasser schwimmen, das mit Pestiziden versetzt ist. Genau wie ein See inmitten von Feldern: versetzt mit endokrinen Disruptoren.
In den USA werteten Kollegen von Demeneix Daten von mehreren Hundert Müttern aus, in deren Blut während der Schwangerschaft Reste von bromhaltigen Flammschutzmitteln (PBDE) nachweisbar waren. Als die Kinder dieser Mütter fünf und sieben Jahre alt waren, wurde ihr IQ getestet. Die Kinder von stark belasteten Müttern erreichten vier bis fünf IQ-Punkte weniger als diejenigen, deren Mütter nur wenige Überreste von Flammschutzmitteln im Blut hatten. In Laborversuchen wurde gezeigt, dass PBDE die Schilddrüsenhormon-Produktion blockieren. Lämmer, Ratten, Mäuse, Wildtiere – alle reagieren empfindlich darauf. Bei schwangeren Frauen ist es auch so.
PBDE sind inzwischen in vielen Ländern verboten, auch in den USA, auch in Deutschland. Doch Sofas, Teppiche, Gardinen, die mit diesen Flammschutzmitteln behandelt waren, wurden über 50 Jahre hinweg verkauft und werden noch heute in zahllosen Haushalten benutzt. So wie andere Stoffe, die eine ähnliche Wirkung haben. Die Beschichtung von Bratpfannen, die Plastikverpackungen von Lebensmitteln, die Auskleidung von Konservendosen, schmutzabweisende Wandfarbe, Läusebekämpfungsmittel für Hunde und Katzen – all diese Errungenschaften des modernen Lebens enthalten endokrine Disruptoren, die in die Schilddrüsenhormon-Produktion eingreifen.
Die Deutsche Gesellschaft für Endokrinologie hält es, genauso wie ihre Schwestergesellschaften in den USA und Europa, für erwiesen, dass endokrine Disruptoren an der Entstehung von Schilddrüsenerkrankungen beteiligt sind. Die WHO bezeichnet die hormonverändernden Substanzen als "globale Bedrohung".
Man könnte sich auf den Standpunkt stellen, dass es nicht so bedeutend ist, ob ein Mensch einen IQ von 112 hat oder von 108, von 99 oder 93. Der IQ schwankt mit der Tagesform. Er ist abhängig davon, wie entspannt der Proband ist, wie er in der Nacht geschlafen und danach gefrühstückt hat. Die Schwankungsbreite beträgt zwischen fünf und acht Punkte. Ein IQ-Verlust in der Bevölkerung von ein paar Punkten über ein Jahrzehnt könnte also ganz und gar unwichtig sein. Doch das stimmt nicht. Weitet man den Blick und überlegt, was ein IQ-Verlust von vier, fünf Punkten gesamtgesellschaftlich bedeutet, sieht es anders aus.
Ein Kollege von Barbara Demeneix, ein New Yorker Kinderarzt und Spezialist für öffentliche Gesundheit, hat das einmal mit einer Gruppe von Forschern ausgerechnet: Medizinern, Statistikern, Epidemiologen, Ökonomen. Auch die Biologin Demeneix gehörte dazu. Allein innerhalb der Europäischen Union belaufen sich die sozioökonomischen Folgekosten, die IQ-Verlust und neurologische Entwicklungsstörungen durch endokrine Disruptoren verursachen, jährlich auf 150 Milliarden Euro.
Sinkt der IQ einer gesamten Volkswirtschaft um fünf Punkte, hat das Auswirkungen vor allem auf die Ränder der Gesellschaft. Es bedeutet, dass sich die Extreme verändern. Dass es viel weniger Hochbegabte gibt, weniger Einsteins und Mozarts. Weniger Genies, weniger Menschen, die in der Lage sind, Ungedachtes zu denken. Und dafür viel mehr Minderbegabte. Menschen, die ihren Alltag nicht allein bewältigen können. Die in Schulen besonders betreut werden müssen. Die in Heimen leben. Deren Eltern weniger arbeiten (und also weniger Steuern zahlen), weil sie sich um ihre Kinder kümmern müssen. Menschen, die arbeitslos werden oder darauf angewiesen sind, dass der Staat ihnen einfache Jobs zur Verfügung stellt.
Auch für eine einzelne Person lässt sich das Drama des verlorenen Verstandes in Zahlen fassen. Mit jedem verlorenen IQ-Punkt verringert man einer Studie zufolge sein Verdienstpotenzial um zwei Prozent. Alles Statistik, und doch: alles echtes Leben.
Es ist das Leben von Emma, deren IQ bei 82 liegt, wie die Sonderpädagogin der besorgten Mutter an jenem Tag in Hamburg mitteilt. Es ist das Leben der verbal beschränkten Kinder in Moira.
Noch streiten die Wissenschaftler darüber, was genau es ist, das den IQ sinken lässt. Die Gene. Die Bildung. Die Erziehung. Die Digitalisierung. Der Jodmangel. Die endokrinen Disruptoren.
Wahrscheinlich spielen viele Faktoren zusammen. So wie Frank Spinath, der Zwillingsforscher aus Saarbrücken, nicht behaupten würde, dass es nur auf die Gene ankommt, würde Barbara Demeneix, die Biologin aus Paris, nicht behaupten, dass ausschließlich die endokrinen Disruptoren die Ursache sind. Der Mensch ist noch sehr viel komplexer als der schon sehr komplexe IQ.
Es wird noch viele sehr intelligente Menschen brauchen, bis wir vielleicht einmal durchdrungen haben werden, was tief drinnen in unseren Köpfen los ist.